Autorin
Anne Weber
Kurzbiografie Anne Beaumanoir
Anne Beaumanoir wurde am 30.10.1923 in Saint-Cast-le-Guildo, Bretagne geboren. Sie ist aufgewachsen in einfachen Verhältnissen doch sie schafft den Weg ins Bildungsmilieu. Schon als Jugendliche war sie Mitglied der kommunistischen Résistance und unterstützt zunächst mit kleinen Botengängen die Widerstandskämpfer. Sie rettet eigenmächtig zwei jüdische Jugendliche. Jedoch wird sie für diese Eigenmächtigkeit von der KP bestraft und wechselt zur gaullistischen Résistance. Erst später bekommt sie von Yad Vashem den Ehrentitel »Gerechte unter den Völkern«.
Nach dem Krieg heiratet sie, studiert Medizin und wird Neurophysiologin in Marseille. Sie bekommt drei Kinder, was sie aber nicht davon abhält sich nach dem Krieg auch der algerischen Befreiungsbewegung FLN anzuschließen. 1959 wird sie zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wegen ihres Engagements auf Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie kann jedoch nach Nordafrika fliehen, gehört der ersten Regierung des unabhängigen Algeriens an. Nach dem Putsch gegen den Präsidenten Ben Bella gerät sie1965 erneut in Lebensgefahr und entkommt mit knapper Not. Sie arbeitet dann in einer Genfer Klinik. Als das Gerichtsurteil aufgehoben wird kehrt sie nach Frankreich zurück.
Inhalt
Grundlage des Romans „Annette, /Ein / Heldinnen - / Epos“ bilden die Gespräche, die die Autorin mit der heute 96-jährigen französischen Neurologin und Résistance-Kämpferin Anne Beaumanoir, genannt „Annette“, geführt hat. Anne Weber lernt Annette in Dieulefit bei einer Filmvorführung kennen. Bei Gänsebrust und Tintenfisch hört sie zum ersten Mal ihre Geschichte.
„Sie hört Annettes Geschichte – also die kurze / Fassung – an; sie aufzuschreiben hat sie / noch lange nicht im Sinn.“ (S. 205)
Nachdem Anne Weber Anne Beaumanoir kennen gelernt hatte, führte sie mit ihr ausgedehnte Gespräche und entschloss sich, das Epos zu schreiben.
Anne Webers Heldinnenepos ist alles andere als eine Hagiografie, denn schonungslos beschreibt sie die Brutalitäten des politischen Untergrundkampfes, die veränderte Moral, Intrigen und faulen Kompromisse. Gleich zu Beginn wird klar, dass Anne Weber jegliche Form von Legendenbildung und Idealisierung zuvorkommen möchte. Anne Weber differenziert zwischen Anne Beaumanoir und ihrer Neuerfindung Annette als Protagonistin.
"Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen. / Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als / auf diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch / Gott hat's gemacht, im Süden Frankreichs. / Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. / Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht." (S. 5)
Schritt für Schritt wird ihre Lebensgeschichte erzählt; ihre Kindheit, die Familie, die Eltern und die Großmutter. Eine frühe Liebe, die tragisch endet. Der junge Mann, ein Jude, wird umgebracht. Annette nimmt eine Abtreibung vor, von der man sagen könnte, dass ihr die politische Sache wichtiger gewesen sei als ihr Privatleben. Sie geht eine Ehe ein und wird kurz darauf wieder geschieden. Ihre zweite Ehe mit einem Arzt ist beständiger und sie bekommt zwei Kinder. Nebenbei absolviert sie ein Medizinstudium mit Promotion und Spezialisierung in Neurologie.
Die Deutschen besetzen 1940 Frankreich und ab da beginnt das Leben von Annette sich zu ändern.
„Dann kommt der unkomische Krieg ins Land. / Die Offensive fängt am 10. Mai 1940 an und ist/ am 22.Juni abgeschlossen.“ (S.22)
Grade mal siebzehn schließt sich Annette der Widerstandsbewegung an. Sie ist von einer tiefen Überzeugung, von einem Ideal durchdrungen ohne von Eitelkeit oder Herrschsucht besessen zu sein. Wie selbstverständlich rettet sie Menschen das Leben unter Gefährdung ihrer eigenen Freiheit.
„Die Lage ist nicht grade ideal, um zwei jüdische Kinder / zu verstecken. Sie tun es trotzdem. Denken / womöglich: In idealen Lagen würde man keinen zu / verstecken haben.“ (S.52)
Nach dem Krieg rutscht sie in den zweiten Befreiungskampf und wirkt mit bei den französischen Kommunisten und auch nur aus Menschlichkeit. Auch hier erledigt sie aus Selbstverständlichkeit Botengänge für die Kommunistische Partei, harrt in Verstecken aus unter wechselnden Namen.
So wie sich entschieden als Mitglied der Résistance auf die Seite der Opfer stellt, so konkret und tatkräftig hilft sie den Menschen auch nach dem Krieg. Doch Frankreich dankt es ihr nicht. Wegen ihres Kampfes für ein unabhängiges Algerien wird sie für 10 Jahre im Gefängnis verurteilt, flieht aus der Haft schließlich nach Tunesien und half beim Aufbau eines Gesundheitssystems. Nach dem Putsch gegen Ben Bella muss sie auch wieder fliehen und kann in Genf ihre Arbeit als Ärztin aufnehmen.
Stil und Sprache
Schon der Stil des Buchcovers ist besonders. In hellem Rot gestaltet mit den Umrissen eines weiblichen Gesichts in Mattgold hinterlegt, was aber erst beim genauen Hinschauen zu erkennen ist. Das außergewöhnliche Merkmal liegt dagegen im Titeltext, der in Versalien und einem ungewöhnlichen Wort- Zeilenumbruch geschrieben wurde. Der Text lautet:
ANNETTE,
EIN
HELDINNEN-
EPOS
Ungewöhnlich ist ebefalls, dass der Name der Autorin auf dem Cover nicht erwähnt wird und damit die äußere Erscheinung des Buches ganz auf Anne Beaumanoir, genannt Annette, gerichtet wird.
Exkurs Epos
„Als Inbegriffe für die Form des Versepos stehen bis heute die Epen Homers Odyssee und Illias. Der an das Epos gestellte Anspruch ist dadurch außerordentlich hoch, da es als Dichtung gehobenen Anspruchs lediglich Themen von herausragender, wenn nicht gar nationaler Wichtigkeit, wie dies bei Homer der Fall ist, zum Gegenstand der Erzählung hat.“
Vgl. Dieter Martin: Das deutsche Versepos im18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. S.1f. Martin spricht hier von einem „Ansporn“ der deutschsprachigen Autoren zu „eigener epischer Produktion“ zu Beginn des 18. Jh.
Anne Weber benutzt den Begriff Epos nicht im Zusammenhang mit Held, sondern mit dem Begriff „Heldinnen“, die erste, die so gewürdigt und besungen wurde seit Jeanne d’Arc.
Die Sprache eines Epos beruht auf ein Gleichmaß in der Reihung von Hauptsätzen (Parataxen) und in Wiederholungen. Anne Weber schreibt in lockerer Versform, nicht mit der Gleichmäßigkeit in den Versen. Sie gestaltet in moderner Versform eine biografische Erzählung, als ob Annettes Leben eine Odyssee wäre.
Anne Weber schreibt mit Genauigkeit und mit Achtung vor Anne Beaumanoir. Sie vermittelt das Heldentum als faktenreiches Epos ohne in Pathos zu versinken. Sie verlässt nie den Boden der Tatsachen und wird damit Annette gerecht. Auch war Annette nie eine Heldin im Glanz der Öffentlichkeit. Siege hat Annette im Versteck, im Ungesehenen errungen.
„So gibt es Hunderte kleiner und größere Aktionen. / Die meiste Zeit verbringt Annette auf Straßen, /Schienen oder Wegen, zu Fuß, in Bussen oder Zügen. / […], wobei wir wieder bei Odysseus angekommen wären." (S.64)
Die Widrigkeiten dieses Lebensweges werden sichtbar, einfache Tatsachen erlebbar, nachvollziehbar und greifbar.
Fazit
Anne Webers Roman ist geglückt. Sie präsentiert uns ein wahrhaft heroisches Leben in vielen nachdenklichen Zeilen und setzt ein Denkmal für eine Frau, die ihr eigens sorgloses Leben, ihre eigene Freiheit für die Rechte und das würdevolle Leben anderer Menschen riskiert.
Dass Anne Weber das Epos gewählt hat, ist bei einem solchen Ausnahmeleben wie bei Anne Beaumanoir, die richtige Wahl.
Sie präsentiert eine Geschichte, die es wert ist gehört zu werden.
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