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Rote Kreuze

Autor

Sasha Filipenko

 

Inhalt

Der junge Alexander ist gerade nach Minsk gezogen. Vor kurzem hat er seine Frau verloren und muss sein Leben mit seiner kleinen Tochter neu ordnen. 

Auf dem Stockwerk seiner Wohnung lebt noch eine neunzig Jahre alte Frau, alleinstehend und an Alzheimer erkrankt. Nach einer kleinen Stadterkundung kommt er zu seiner Wohnung zurück und stellt mit Erstaunen fest, dass jemand ein rotes Kreuz auf seine Wohnungstür gemalt hat. Es stellt sich heraus, dass seine Nachbarin Tatjana Alexejewna es war. Alexander hält es zunächst für einen Scherz, doch Tatjana Alexejewna erklärt ihm, dass sie das Rote Kreuz braucht, um den Weg nach Hause zu finden. Sie erklärt Alexander, dass bei ihr kürzlich Alzheimer diagnostiziert wurde. Sie weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Krankheit ihr Gedächtnis zerstört und ihre Erinnerungen ausgelöscht hat. Tatjana bittet Alexander in ihre Wohnung und will ihm ihre Geschichte erzählen. Eigentlich möchte er nicht auf einen Plausch zu ihr kommen, doch dann fesselt ihn die Lebensgeschichte. 

 

„»… Ich würde Ihnen gern eine unglaubliche Geschichte erzählen. Eigentlich keine Geschichte, sondern eine Biographie der Angst. Ich möchte Ihnen erzählen, wie das Grauen den Menschen unvermittelt packt und sein ganzes Leben verändert.«“  (S. 15)

 

Sie erzählt von ihrer Vergangenheit, an die sie sich noch gut erinnern kann. Sie erzählt von dem Zweiten Weltkrieg, ihrer Arbeit im Außenministerium. Ihr Mann Ljoscha wurde vermisst und ihre Tochter Assja entriss man ihr, als sie wegen Volksverrat ins Lager kam.

Sie erzählt ein schockierendes Kapitel der russischen Geschichte, wie die Sowjetunion die russischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg im Stich ließ, wie ihre Familien als Verräter verfolgt wurden.

 

Sprache und Stil

Tatjana Alexejewna wird in London geboren. Anfang 1920 zieht sie mit ihrer Familie nach Moskau. Ihr Vater Alexej Alexejewitsch Bely sieht in dem Regierungswechsel „eine Revolution des Geistes! Petersburg und Moskau sind jetzt Städte des kleinen Mannes!“ (S. 23) 

Tatjana begeistert sich für den Kommunismus. Sie dient ihrem Land und wird doch verhaftet.

Sie arbeitet als Fremdsprachensekretärin im Außenministerium, als sie einen Brief bekommt, den sie übersetzen soll. Es ist eine Liste mit Namen russischer Kriegsgefangener in Rumänien, auf der sie den Namen ihres Mannes entdeckt. Sie weiß, dass Kriegsgefangene und ihre Familien als Verräter verfolgt und in den Gulag geschickt werden. Sie nimmt den Namen aus der Liste und setzt einen anderen Namen, der bereits schon auf der Liste steht, dazu.

Die gefährliche Einmischung zum Schutz ihres Mannes hat nicht die Wirkung, die sie sich vorstellt. Sie wird als Verräterin bestraft und verbringt fast zehn Jahre voller psychischer und körperlicher Misshandlungen in einem weit entfernten, entsetzlichen Lager, ohne zu wissen, was mit ihrem Mann und Kind geieht. Erst nach der Haftentlassung erfährt sie, dass beide nicht mehr leben. Zudem plagt sie das schlechte Gewissen, einen Betrug vorgenommen zu haben, von dem sie sich eine Rettung erhoffte. 

 

Sie ist am Ende ihres Lebens angekommen. Sechzig Jahre später erzählt sie ihre Lebensgeschichte ihrem jungen Nachbarn. Ihre Geschichte beginnt in Moskau 1941, als Russland schon im Krieg gegen das Nazideutschland steht. Sie erzählt von dem Wahnsinn der wütenden, stalinistischen Säuberungen.

 

Trotz alledem hat sie ihren Kampfgeist bewahrt und kämpft dafür, dass nichts vergessen wird. 

 

Das Band zwischen Tatjana und Alexander

Tatjana hat Mann und Tochter verloren.

Alexander musste eine schwierige Entscheidung treffen. Er konnte wenigstens seine Tochter retten. 

Beide sind verlassenen und beide werden mit dem Vergessen, Erinnern konfrontiert. Alexander hat kein Alzheimer und muss trotzdem gegen das Vergessen kämpfen.

Die Metapher „Alzheimer“ ist im Roman „Rote Kreuze“ allgegenwärtig.

 

Die Alzheimer-Krankheit als Schlüsselrolle 

Tatjana hat Alzheimerkrankheit. Alzheimer beginnt mit leichten Gedächtnisstörungen und dem Betroffenen fällt es zunehmend schwer, sich in fremder Umgebung zu orientieren.

Es folgen deutliche Ausfälle bis zum Kontrollverlust. Das weiß Tatjana und kokettiert damit. „Ihr fällt der Vatername nicht mehr ein“ (S. 12).

Der Autor setzt die Alzheimerkrankheit als Metapher ein. Als Mahnung der Erinnerung und gegen das Vergessen. Es ist ein Aufschrei gegen das Vergessen. Hier insbesondere gegen das kollektive gesellschaftliche Vergessen, der Repressionen in den sowjetischen Republiken.

Die „Roten Kreuze“ stehen ebenfalls für „Alzheimer.“ Sie zeigen den Weg, dieses Vergessen zu verhindern. Die zahlreichen Dokumente geben Aufschluss darüber, was geschehen ist. Menschen, die davon betroffen waren, bekommen Namen, sie werden namentlich genannt. Die Schicksale werden sichtbar.

Denn nicht nur die Alzheimerkrankheit lässt vergessen, sondern auch eine Generation, die dies miterlebt hat, wird eines Tages nicht mehr da sein und darüber reden können. Und daher ist es wichtig, dass nichts in Vergessenheit gerät. 

 

„Aber jetzt, wo in meinem Leben alles vorbei ist…jetzt denkt sich Gott, dieser von mir erdachte Gott, für mich Alzheimer aus, weil er Angst hat! Er hat Angst, mir in die Augen zu schauen! Er will, dass ich alles vergesse.“ (S. 197)

 

Historische Fakten, die überprüfbar sind  

Sasha Flilipenko verwendet in seinem Roman „Rote Kreuze“ Dokumente, die er in Genf recherchiert hat, denn in Moskau werden diese Dokumente unter Verschluss gehalten. Das alleine ist schon sehr wertvoll, die Dokumente zu lesen. Sie bilden letztendlich auch die historische Grundlage für seinen Roman. Oftmals kann man aus den Dokumenten entnehmen, dass auf Briefe oder Telegramme keine Antwort kam „unbeantwortet geblieben“.

Jedes Dokument und jedes Telegramm stellt einen „Stolperstein" dar. Die Aussagen sind gewaltig. Wie wenig war man an Menschen interessiert, diese zurückzuholen. „Wir sind immer davon ausgegangen, dass sich in jeder Regierung und in jeder Organisation ein Mensch finden lässt, der sich zurückmeldet. Neun werden nicht antworten, aber der Zehnte wird das lesen und was unternehmen." (S. 266) 

Jedes Dokument hat eine eigene Aussagekraft, ein anderes Schicksal. Es geht um Reden des Volkskommissars, Erklärungen des deutschen Botschafters von Schulenburg, Amnestie-Erlass aus der Prada, Einlieferungsschein in die Krankenstation des Gulag, vieles mehr. Eindrucksvoller kann man diese Zeit 1941/42 in diesem Zusammenhang nicht wiedergeben.

 

Erzählstrategie

Sasha Filipenko baut seinen Roman auf zwei Erzählsträngen auf. Einmal erzählt Tatjana und dann wieder Alexander. Bei beiden wechselt er zwischendurch die Perspektive mit dem Effekt, dass der Leser direkt das Geschehen verfolgen kann. Diese Strategie erzeugt einen Sog in das Geschehen, dem man sich nicht entziehen kann. 

Der Text wird zudem durch Gedichte und Liedtexte aufgelockert.

 

Fazit 

Sasha Filipenko ist ein außerordentlicher Roman gegen das Vergessen der geschichtlichen Verbrechen gelungen. 

Tatjanas Schicksal wird in einem erschütternden, mitreißenden Lebensverlauf erzählt.

Dieser Lebenslauf steht stellvertretend für Millionen anderer Menschen, ist aber nicht fiktiv, sondern real. Genau das macht diesen Roman aus.

 

Er zeigt die Willkür der sowjetischen Regierung, die auch vor Misshandlungen im Gulag nicht halt macht.

Die Verbindung der Realität wird mit der fiktiven Person Tatjana hergestellt. Tatjana hat für das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten als Fremdsprachensekretärin gearbeitet und ist mit dem Schriftverkehr des Roten Kreuzes bestens vertraut. Filipenko konnte im Genfer Archiv die Dokumente einsehen.

Die realen Schriften, Briefe und Dokumente ergeben einen erschreckenden Roman einer nicht vorstellbaren Zeit. Wir erkennen, wie wichtig das Aufarbeiten ist. Wir erkennen, das Verdrängen sowie Verschweigen der Vergangenheit in Russland und Weißrussland.

Die schriftlichen Aussagen kommen aus Genf und wir wissen nicht, was Moskau noch unter Verschluss hält.

 

Sasha Filipenko berichtet und erzählt präzise, unmissverständlich die Geschichte von Tatjana Alexejewna, während der Gräueltaten in der Stalin-Zeit. Fassungslos und schockiert bleibt der Leser zurück.

 

Welches Fazit soll ich ziehen? Der Autor bringt es selbst auf den Punkt.

 

In einem Interview antwortet Sasha Filipenko auf die Frage: 

 

„In Rote Kreuze kreist alles um das Thema Erinnern und Vergessen, im privaten Leben wie als Gesellschaft. Warum dürfen Schicksale wie das von Tatjana Alexejewna nicht vergessen werden, warum ist das wichtig für die Gegenwart? 

 

Sowohl in Russland als auch in meinem Heimatland Weißrussland neigt heute nicht nur die Gesellschaft selbst dazu, die Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts zu vergessen (was leider natürlich ist), sondern – und das ist weitaus gefährlicher – der Staat trifft bewusst Maßnahmen, um diese Erinnerung auszulöschen. 

Beispiele dafür gibt es leider unzählige, hier nur eines: In Perm war im ehemaligen Gulag ein Gedenkmuseum eingerichtet, das von den schrecklichen Repressionen der Stalin-Zeit erzählte. Daraus wurde vor kurzem ein Museum über Gefängniswärter gemacht, das Touristen präsentiert, wie gut das Strafvollzugssystem der UdSSR funktionierte. Der Staat tut alles, damit die Menschen die Grausamkeiten des Sowjetregimes vergessen, und unsere Aufgabe ist es, das nicht zuzulassen.“ 

Quelle: in Lesekreise, https://www.diogenes.ch/leser/titel/sasha-filipenko/rote-kreuze-9783257071245.html, 06.03.2022.

 

 

 

Sasha Filipenko

Rote Kreuze

Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer

Diogenes Verlag AG Zürich, 

erschienen am 26. Februar 2020 

 

 

 

 

 

Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, März 2022, Buchvorstellung Sasha Filipenko, Rote Kreuze, https://www.lesenueberall.com/2022/03/08/rote-kreuze/

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