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Christine de Pizan »Ich, Christine«

Margaret Zimmermann, eine ausgewiesene Spezialistin für Christine de Pizan, widmet sich in „»Ich, Christine«“ autobiografischen Passagen im Werk der berühmten Schriftstellerin und Philosophin. Diese Passagen, tief verwurzelt in persönlichen Erfahrungen und Reflexionen, offenbaren nicht nur Pizans beeindruckende intellektuelle Tiefe, sondern auch ihre außergewöhnliche Fähigkeit, die Herausforderungen und Perspektiven ihrer Zeit aus einer weiblichen Sicht zu beleuchten.

Zimmermanns Ansatz, Pizans autobiografische Texte als Schlüssel zu ihrem gesamten Schaffen zu betrachten, eröffnet eine Perspektive auf die Schriftstellerin als eine Pionierin weiblicher Selbstbestimmung. 

 

Christine de Pizan ist das Kind einer Migrantenfamilie, die durch den intellektuellen Ruf ihres Vaters, Tommaso da Pizzano, nach Frankreich gelangt. Dies zeigt, wie Mobilität im Mittelalter nicht nur für Händler oder Adelige, sondern auch für Gelehrte eine wichtige Rolle spielt.

 

„»Durchquerung fremdartiger Landschaften, hochaufragender Alpen, wilder Heidelandschaften, tiefer Wälder und rauschender Flüsse. So reiste ich viele Tage lang, bis mir aus weiter Ferne der Lichtschein des vor Glorie leuchtenden Landes erschien, zu dem ich strebte.«“ (S. 13) 

 

Christine de Pizans Leben ist geprägt von schweren Verlusten – dem Tod ihres Ehemanns, ihrer Kinder und ihres Vaters. Doch anstatt daran zu zerbrechen, beweist sie bemerkenswerte Resilienz, indem sie das Schreiben als Mittel nutzt, um sich und ihre Familie zu versorgen. Ihre Fähigkeit, persönliche Tragödien in kreativen Ausdruck zu verwandeln, ist außergewöhnlich.

 

Gleichzeitig spiegelt ihre Biografie den interkulturellen Austausch ihrer Zeit wider: Ihr italienisches Erbe und ihre französische Prägung verschmelzen zu einer einzigartigen Identität, die Wissen und Kultur über geografische und sprachliche Grenzen hinweg vereint.

 

In »Ich, Christine« wird Christine de Pizans Lebensgeschichte mit beeindruckender stilistischer Finesse und literarischer Vielfalt entfaltet. Ihre Texte wie Das Buch der launischen Fortuna (1402/03) und Christines Vision (1405) sind nicht nur autobiografische Erzählungen, sondern zugleich philosophische Reflexionen und amüsante Anekdoten, die ihre Lebensabschnitte in leuchtenden Bildern darlegen. In Das Buch der launischen Fortuna lässt Christine ihre Leser*innen teilhaben an den Wendungen ihres Schicksals – von ihrer privilegierten Kindheit im königlichen Umfeld bis hin zu den Verlusten, die sie durch den Tod ihres Vaters und Ehemanns erleidet. Hier beschreibt sie, wie Fortuna, die Göttin des Glücks, ihr Leben mit spielerischer Willkür lenkt. Doch trotz der Härten formt Christine aus den Widrigkeiten ihre Stärke, sie wächst gleichsam von einer „Frau zu einem Mann“, wie sie selbst schreibt – ein Bild für ihre intellektuelle und soziale Selbstermächtigung in einer von Männern dominierten Welt. 

 

»Um jedoch mein Anliegen klarzustellen: Ich werde darlegen, wer ich, die ich hier spreche, die auf Geheiß von Frau Fortuna von einer Frau zu einem Mann wurde, eigentlich bin.«“ (S. 44)  

 

In ihrer Lebensgeschichte, die auch von Demütigungen, Niederlagen, Krankheit und Phasen tiefer Mutlosigkeit geprägt ist, vollzieht Christine de Pizan eine bemerkenswerte Transformation – eine Metamorphose, die an die erhabene Dramatik und poetische Eleganz von Ovids Metamorphosen erinnert. Mit anmutiger Erzählkunst schildert sie den Wandel von einer Frau zu einem Mann, herbeigeführt durch die symbolische Kraft der Fortuna. Diese metaphorische Geschlechtsumwandlung verleiht ihr Zugang zu den sozialen und männlich definierten Positionen ihrer Zeit, die ihr zuvor verwehrt waren. Es ist eine subtile wie kraftvolle Umdeutung der Geschlechterrollen, die zeigt, wie Christine die Grenzen ihrer Epoche überwindet und sich eine Stimme verschafft, die sowohl intellektuell als auch gesellschaftlich Gehör findet. Mit diesem Kunstgriff gelingt ihr nicht nur eine tiefgreifende Reflexion über Identität und Geschlecht, sondern auch eine selbstbewusste Aneignung von Macht und Autonomie in einer Welt, die Frauen oft nur begrenzte Möglichkeiten bietet.

 

Ihre Erzählung lässt eine bemerkenswerte Vorwegnahme heutiger Diskussionen zur Genderfrage erkennen.

 

In ihrem langen „Lehr-Dialog“ zwischen Christine und Frau Philosophie breitet die Ich-Erzählerin  ihr Leben weiter aus, verknüpft persönliche Erfahrungen mit philosophischen Betrachtungen über Gesellschaft, Gerechtigkeit und die Position der Frau. Christine führt ihre Leser*innen durch eine geistige Reise, die sie nicht nur zu einer Chronistin ihrer Zeit macht, sondern auch zu einer moralischen Stimme, die weit über ihre Epoche hinausreicht. Mit feinsinnigem Humor und einem Hauch von Ironie schildert sie die Höhen und Tiefen ihres Lebenswegs und entwirft dabei ein kraftvolles Bild einer Frau, die schwierige Lebenssituationen, Krisen oder Rückschläge erfolgreich zu bewältigen und gestärkt daraus hervorgehen kann. 

 

„Zu jener Zeit, als mir mein Lebensalter naturgemäß einen bestimmten Grad an Erkenntnis ermöglichte, richtete ich meinen Blick zurück auf die Abenteuer der Vergangenheit, dann nach vorn auf den Endpunkt aller Dinge. Genau wie ein Mann, […].“ (S. 94) 

 

Christine de Pizan überzeugt im Umgang mit Sprache und Erzählkunst. Sie verbindet tiefgründige Gedanken mit lebendigen, persönlichen Erlebnissen und erzählt ihre Lebensgeschichte auf eine eindrucksvolle und stilvolle Weise.

Margarete Zimmermann hat mit sorgfältige Übersetzung von Pizans Texten eine zeitlose Botschaft für ein modernes Publikum zugänglich gemacht, ohne den Stil des Originals zu verlieren.

 

Christine de Pizan war mehr als nur eine Chronistin ihrer Zeit; ihre Werke setzen sich leidenschaftlich für Bildung, Gleichberechtigung und die Bedeutung des geschriebenen Wortes ein – Werte, die auch heute noch relevant sind.

 

 

 

 

 

 

Christine de Pizan 

 »Ich Christine«

 

Autobiografische Texte

Herausgegeben und übersetzt

von Margarete Zimmermann

 

AvivA

erschienen 2024

 

 

 

 

Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, Januar 2025, Buchvorstellung  Christine de Pizan  »Ich, Christine« Autobiografische Texte

Herausgegeben und übersetzt von Margarete Zimmermann 

 https://www.lesenueberall.com/2025/01/05/christine-de-pizan-ich-christine/ 

 

 

 

 

 

 

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