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Das Fräulein

Ivo Andrić war ein bosnischer Schriftsteller und Diplomat, geboren am 9. Oktober 1892 in Dolac bei Travnik - Bosnien und gestorben am 13. März 1975 in Belgrad. Er ist einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts auf dem Balkan und wurde 1961 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Sein bekanntestes Werk ist der Roman "Die Brücke über die Drina", der sich mit der Geschichte und dem Leben in der bosnischen Stadt Višegrad auseinandersetzt. Andrić schrieb jedoch auch viele andere Romane, Erzählungen und Essays, die sich mit der Geschichte, Kultur und Gesellschaft der Balkanregion befassen.

 

Der Tod des Fräuleins ist Ausgangs- und Endpunkt des auktorialen Erzählers. Schon auf der ersten Seite des Romans wird ihre Leiche vom Briefträger entdeckt, die sensationslüsterne Belgrader Bevölkerung hofft - so heißt es schelmisch - auf einen Kriminalfall. Bereits der nächste Absatz lässt die Hoffnung auf einen Kriminalfall, den Andrić geschickt mit gattungsspezifischen Normen einbaut, wie eine Seifenblase platzen. Die Untersuchungen ergeben einen natürlichen Tod ohne Fremdeinwirkung. Das Fräulein starb an Herzversagen. Doch im Hintergrund bleibt der leise schwingende Ton, ob das Fräulein vielleicht doch nicht eines natürlichen Todes verstorben ist. Mit dieser Situation setzt der Roman ein, denn von Beginn an, weiß der /die Leser:in wie es endet. Was passiert dazwischen? 

 

Das Fräulein, „eine große, hagere alte Jungfer, ihr Gesicht ist gelb von Runzeln durchfurcht“ (vgl. S. 12 f.) sitzt in ihrem einzigen beheizten Zimmer und stopft Strümpfe. Mit wenigen Sätzen hat der Schriftsteller Ivo Andrić die Hauptperson umrissen und in den Fokus gestellt. 

Stück für Stück nähert er sich der Person an und beschreibt aus ihrer Sicht die Geschichte. Beim Stopfen erinnert sich das Fräulein an ihre Vergangenheit. 

 

„Das ist eine Lust. Das heißt wahrlich, einen ewigen und ermüdenden Kampf führen und einen mächtigen, unsichtbaren Feind überlisten“ (S. 15) 

 

Rajka Radaković ist die Tochter des erfolgreichen und anerkannter Geschäftsmannes Gazda Obren Radaković. Ihre Mutter, eine schwache Frau, stammt aus einer angesehenen Sarajevoer Familie. In der Familie ist Rajkas Vater der Mittelpunkt, besonders in ihrem Leben. Rajka ist fünfzehn Jahre alt, als das Unfassbare geschieht: Ihr geliebter und verehrter Vater ist bankrott und stirbt kurze Zeit später. Doch vorher nimmt er auf dem Sterbebett ein Versprechen seiner Tochter ab. Sie sei nun verantwortlich für sich und ihre Mutter. Eindringlich erklärt er ihr die Härte des Geschäftslebens. Sie müsse unerbittlich sein und keine Schwächen zeigen.  

 

„Du musst gegen dich und andere unbarmherzig sein.“ (S. 25)

 

Nach dem Tod des Vaters verwirklicht sie schnell seine Ratschläge, um die Ehre ihres Vaters wieder herzustellen. Unerbittlich reduziert Rajka alle finanziellen und materiellen Ausgaben. Die Gäste ihrer Mutter werden nicht mehr eingeladen, weil sie zu viel Kaffee und Zucker verbrauchen. Bettler werden aus dem Haus gejagt und das Personal wird nicht mehr gebraucht. Rajka kontrolliert auch sich selbst und lässt keine Emotionen zu. Nachdem sie die Schulden ihres Vaters getilgt hat, erweitert sie ihre Geschäfte. Sie fängt mit Spekulationsgeschäfte an und beginnt im Verborgenen  mit der zwielichtigen Wucherei ihr Vermögen zu mehren. 

 

Ihre Geldgier und das Sparen verändert sie körperlich und psychisch. 

 

Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo, das den Ersten Weltkrieg auslöst, am 28. Juni 1914, wird detailliert aus der Perspektive des Fräuleins beschrieben. 

 

Ihre Mutter sagt: „Die armen Serben werden wieder dafür büßen.“ (S. 94) 

 

Das Fräulein selbst durchlebt diese Zeit am Anfang mit mangelnder Solidarität mit den Serben. 

 

„Was habe ich mit den Studenten zu schaffen?“ (S. 96) 

 

Sie zieht um nach Belgrad und kommt bei Familienmitgliedern unter. Ihr gesamtes Lebenskonzept gerät ins Wanken. Als in dem Haus bei einer Gesellschaft ein Dichter ein Gedicht vorträgt, das von „einem schrecklichen und blutigen Angriff auf den Reichtum und die Reichen, auf ihr Geld und Lebensweise“ handelt, verlässt sie verbittert den Raum. 

 

Ivo Andrić gelingt hervorragend, das Fräulein mit historischen Ereignissen in Verbindung zu bringen. Die historischen Gegebenheiten spiegeln ihre Reaktion wider. Sie muss reagieren, aber sie erkennt nicht die Auswirkungen. Ihr Denken ist gefangen im Rausch des Geldes. Sie sucht Antworten, ob es eine Verschwörung sein kann gegen Geld und Sparsamkeit. Sie versucht unsichtbar zu bleiben aus Angst. 

 

„Sie hatte Angst vor diesen Spuren des Krieges, aber ebenso fürchtete sie sich vor dem neuen, tosenden Leben, das rücksichtslos neben den Ruinen und den vom Unglück betroffenen Menschen brodelte und dahinjagte.“ (S. 180) 

 

Die Angst lebt auch in ihren Träumen. 

 

Andrićs Roman umfasst die Zeitspanne von 1903 bis 1935. Er beginnt in Belgrad, spielt im Rückblick über weite Strecken in Sarajevo und endet dann in Belgrad, wo der Faden vom Anfang des Textes aufgenommen wird. 

Gezielt setzt er die pittoresken Lebensformen der damaligen Balkangesellschaft ein, deren Elemente   den Hintergrund bilden und wie auf einer Bühne eine Komödie stattfinden lassen. 

 

Am Ende des Romans nimmt der Tod des Fräuleins genaue Konturen an. Ihre skrupelhafte Haltung erreicht einen Höhepunkt durch die groteske Liebeserfahrung mit einem Hochstapler. 

Der Kreis schließt sich mit dem Gedanken des Fräuleins, dass ein äußerer Feind sie bedroht, aber es war nur der Geiz. Eine nicht erfolgte Operation am Herzen aus Geldgier und Habsucht brachte sie zum Fall. Ihr Untergang endet seelisch versteinert, notwendig, abgeschlossen, endgültig. 

 

Ivo Andrić wählt die Protagonistin mit Bedacht. Er stellt eine Frau als Geizhals in den Mittelpunkt, die im gleichen Atemzug ihre weiblichen Attribute verliert. Sie wird hart und bekommt männliche Züge. Die Protagonistin wird auf die Stufe der männlichen Geizhälse in der Literatur gestellt.

 

Während in seinen anderen Romanen „bunte Menschenreigen sich gegenseitig beleuchten und bespiegeln“, gibt es in dem Roman „Das Fräulein“ nur sie als Protagonistin, die durch alle anderen Charaktere ins Rampenlicht gestellt wird. Der auktoriale Erzähler ist während der gesamten Erzählung immer dicht bei dem Fräulein. 

 

Das Titelbild des Romans zeigt ein Porträt einer jungen, sehr gepflegten, anmutigen jungen Frau. Auf den ersten Blick passt diese Abbildung überhaupt nicht zum Inhalt des Textes. Doch genau hier wird der Kontrast deutlich zum Inhalt der Geschichte gestellt. Man hätte gerne das Fräulein sympathischer und offener gehabt, doch Andrić verhindert es und stellt uns aus seinem Blick sein Fräulein vor, „eine Sklavin der eigenen Raffgier“. (S. 267)

 

Fazit

Das Nachwort ist eine informative Ergänzung, die sich eng an das Thema Geiz und seine möglichen Folgen hält. In diesem Zusammenhang wird ebenfalls der Autor durchleuchtet, inwiefern dieser ein Geizhals gewesen sein könnte. In anderen Romanen von Andrić tauchen ebenso Geizhälse auf wie bei anderen Schriftstellern. Das Besondere in seinem Roman ist die weibliche Figur des Geizhalses. Eine Frau am Rande der Gesellschaft, die sich mit männlichen Attributen behauptet, Geldgeschäfte macht und nur auf sich selbst bezogen lebt. Ivo Andrić ist eine interessante, exzessive Charakterstudie gelungen.

 

 

 

 

 

 

Ivo Andrić

Das Fräulein

übersetzt aus dem Slawischen von Edmund Schneeweis, Katharina Wolf-Grießhaber

Paul Zsolnay Verlag; 1. Edition (20. März 2023) 

 

 

 

 

 

 

 

 Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, Januar 2023, Buchvorstellung Ivo Andrić, Das Fräulein, https://www.lesenueberall.com/das-fr%C3%A4ulein/

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