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Die Kolonie

Im Roman „Die Kolonie“ von Audrey Magee begibt sich der Künstler Lloyd auf eine einsame Insel in Irland, um dort Inspiration für seine Kunst zu finden. Die Insel ist nur von wenigen Menschen bewohnt und Lloyd plant, den Sommer mit Zeichnen zu verbringen. Doch seine Unterkunft missfällt ihm, und er kommt mit den Einheimischen, insbesondere der Vermieterin Bean Uí Néill und ihrer Tochter Mairéad, nicht gut zurecht. Zudem wird seine Ruhe gestört, als der Linguist Jean-Pierre Masson ebenfalls auf die Insel kommt, um die irische Sprache zu erforschen.

Auf der abgelegenen Insel wächst rasch eine Abneigung gegenüber dem Engländer, den die Bewohner als "Sasanach" – als Fremdkörper, als Symbol des englischen Einflusses – wahrnehmen. Besonders zwischen Lloyd und Masson entfaltet sich eine gegenseitige Feindseligkeit, durchzogen von unterschwelligen Spannungen und unausgesprochenem Groll.

 

 

Also, sind wir bereit für einen Sommer mit diesen beiden Männern?

Das wird höchst unterhaltsam, sagte Mairéad.

Meinst du?, fragte Bean Uí Néill.

Ein Spektakel, Mam.

Mir gefällt das nicht. Zwei Ausländer gleichzeitig.

Lehn dich einfach zurück und guck zu, Mam. Genieß es.

Die werden den ganzen Sommer lang streiten, sagte Bean Uí Néill.

Kampf der Egos, sagte Francis. Frankreich gegen England. 

Die denken, Ihnen gehört die Insel. (S. 90)

 

Einerseits ist die Insel ein in sich geschlossener Mikrokosmos, geprägt von Eigenheiten und einem Gefühl des Andersseins. Doch immer wieder dringen Einschübe in die Erzählung, die die blutige Realität des Nordirland-Konflikts ins Bewusstsein rücken. Was zunächst fern und abstrakt erscheint, rückt unaufhaltsam näher – die Welt außerhalb der Insel lässt sich nicht verdrängen.

Wir befinden uns im Jahr 1979 – einer Zeit, in der der Nordirland-Konflikt in voller Härte tobt. Die Straßen Belfasts sind von Angst und Misstrauen erfüllt, Bombenanschläge und Schüsse sind Teil des Alltags, in dem die Nachrichten von den Troubles täglich erscheinen. Die Grenze zwischen Freund und Feind ist fließend, ein einziges falsch ausgesprochenes Wort kann über Schicksale entscheiden. Mit jedem Akt der Gewalt eskaliert der Konflikt weiter, angetrieben von Fanatismus, Rache und jahrzehntelangen Gräben zwischen den verfeindeten Lagern.

 

Dieses Land wurde kolonisiert, sagte Lloyd

Wird, sagte Francis.

Lloyd zuckte mit den Schultern.

Die Sprache ist ein Opfer der Kolonisierung, sagte er. In Indien. In Sri Lanka. In Algerien. (…)

Die Sprache lebt noch, sagte Masson. Hier auf dieser Insel. (S. 197)

 

Der Roman erzählt nicht nur eine individuelle Geschichte, sondern fängt zugleich tiefgreifende gesellschaftliche und politische Spannungen ein. Was zunächst als isolierte Schilderung der Opfer des Bürgerkriegs erscheint, rückt durch die Reaktionen der Figuren zunehmend in den Vordergrund. So entsteht das beklemmende Gefühl, dass niemand wirklich unbeteiligt bleiben kann – nicht einmal in der vermeintlichen Abgeschiedenheit der Insel.

Masson misstraut nicht nur dem Vertreter der ehemaligen Besatzungsmacht, sondern bekämpft auch aktiv den Einfluss des Englischen – in Forschung, Interviews und Alltag. Dies bringt ihn in Konflikt mit Lloyd, der die Insel für seine Karriere nutzt und James, Mairéads Sohn, fürs Malen begeistert. Während James Lloyds Nähe sucht und über einen Abschied nachdenkt, erinnert Masson ihn mit seinem irischen Namen Séamus an seine Wurzeln. Am Ende entpuppt sich die letzte Hoffnung von James als trügerische Illusion.

 

„Er ist eine Elster, James… Das machen Elstern nun mal.“

– „Du meinst, es ist seine Natur? Er ist also nur er selbst.“ (S. 337)

 

Diese Worte lassen sich auf eine tiefere Wahrheit übertragen. Wolfram von Eschenbachs Parzival zeigt den Gegensatz von Gut und Böse, verkörpert in Farben: Weiß für Reinheit, Schwarz für das Schlechte. Doch der Mensch ist nie nur eines von beidem. Er ist beides zugleich – wie eine Elster, gefärbt in Schwarz und Weiß, gefangen zwischen Licht und Schatten. 

 

Besonders die Sprachstruktur offenbart eindrucksvoll das Wechselspiel zwischen Spannung und Idylle. Die Autorin bedient sich einer Technik, bei der lange, von Kommas durchzogene Sätze die Gedanken und Emotionen der Figuren in einem unaufhörlichen Fluss ineinander übergehen lassen. Diese Stilistik mag zunächst ungewohnt erscheinen, doch gerade darin liegt ihre Kraft: Sie lässt den Leser in die innere Zerrissenheit der Charaktere eintauchen, macht ihre intensiven Gefühlszustände spürbar. Der Gedanke wird nicht unterbrochen, die Emotionen strömen ungehindert – ein Sog aus Sprache und Empfindung, der die innere Unruhe der Figuren greifbar macht.

 

Fazit 

Die Geschichte Irlands in der Zeit der Kolonialherrschaft wird in einer außergewöhnlichen Schreibweise, mit hervorragenden Dialogen, Einschüben der Realität, Aufzählungen, lange Sätze und dann wieder im Romanstil abwechslungsreich gestaltet. Magee meistert mit Eleganz und Feingefühl, indem sie die sanfte, fast poetische Erzählweise der Inselbewohner nahtlos mit der düsteren, konfliktgeladenen Wirklichkeit des Festlands verwebt. Gerade in diesem Zusammenspiel von Stille und Unruhe entfaltet der Roman seine Spannung und Tiefe, wodurch die vielschichtige Realität von Zeit und Ort eindrucksvoll greifbar wird.

 

 

 

 

 

 

Audrey Magee

Übersetzung: Nicole Seifert

Die Kolonie 

Nagel & Kimche; 1. Edition (28. Januar 2025)

 

 

 

 

 

 

Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, Februar 2025, Buchvorstellung  Audrey Magee, Die Kolonie

https://www.lesenueberall.com/2025/02/10/die-kolonie/ 

 

 

 

 

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