Epoche

Moderne (1890-1920)

Rainer Maria Rilke

 

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,

dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

aus: Das Buch der Bilder (1902)

 

Interpretation Herbsttag

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Lösch mir die Augen aus

Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn, wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,

und ohne Füße kann ich zu dir gehn,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören. Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,

halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen, und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.
 

aus: Das Stunden-Buch (1905)

 

 

 

 

Eckpunkte 

* 04.12.1875 in Prag

† 29.12.1926 in Val-Mont (Schweiz)

 

Rainer Maria Rilke gilt als einer der einflussreichsten Lyriker des frühen 20. Jahrhunderts. Seine frühen Werke waren noch stark vom Jugendstil und Impressionismus geprägt.

 

Else Lasker-Schüler

 

Ein alter Tibetteppich

Deine Seele, die die meine liebet,

Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.

Strahl in Strahl, verliebte Farben, Sterne, die sich himmellang umwarben.

Unsere Füße ruhen aufder Kostbarkeit,

Maschentausendabertausendweit.

Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron,

Wie lange küßt dein Mund den meinen wohl

Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon? 

 (1910)

 

 

 

Eckpunkte

* 11.02.1869 in Wuppertal-Elberfeld

† 22.01.1945 in Jerusalem

 

Else Lasker-Schüler gilt als Vorläuferin, Repräsentantin und Überwinderin des Expressionismus.