Autorin
Virginia Woolf
Adeline Virginia Stephen wird am 25. Januar 1882 als Tochter des Biografen und Literaten Sir Leslie Stephen, seiner Frau Julia (geb. Jackson, geschiedene Ducksworth) in London geboren. 1912 heiratet sie den Schriftsteller und Journalisten Leonard W. Woolf.
1917 gründen sie gemeinsam einen eigenen Verlag "The Hogarth Press“. Neben 17 literarischen Werken von Virgina Woolf erscheinen ebenfalls Romane von James Joyce und Marcel Proust.
1925 wird „Mrs. Dalloway“ veröffentlicht.
Virgina Woolf stirbt am 28. März 1941 durch Freitod im Fluss Ouse bei Lewes in Suxxes.
Einleitung
Der Roman Mrs. Dalloway gilt in der englischen Literatur des 20. Jahrhunderts als Hauptwerk. Virginia Woolf führt in diesem Roman eine grundlegende neue Stilrichtung ein und setzt Maßstäbe für die Weiterentwicklung der literarischen Moderne.
Das Goldene Zeitalter ist angebrochen. Gesellschaftliche und kulturelle Umbrüche prägen die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die Wirtschaft erholt sich und eine moderne Massenkultur und Technisierung nimmt schnell große Ausmaße an. Hinzu veränderte sich das durch die Einführung des Frauenwahlrechts 1918, das traditionellen Rollenbild der Frau. Die Traditionen Englands geraten in Wanken.
Die Literatur reagiert auf diese Veränderungen und legt den Fokus zunehmend auf die Darstellung der inneren Welt, betonte menschliche Emotionen, psychische Spannungen und Sinneseindrücke, da die reale Welt nicht fassbar ist und nur noch subjektiv wahrgenommen wird.
„So ist Mrs. Dalloway, 1925 erschienen, auch ein großer London-Roman, in dem Straßen, Geschäfte, Parks, Geräusche und Gerüche der Großstadt mit atemberaubender Detailtreue eingefangen werden, sodass wir Leserinnen meinen, mit den Figuren die Bewegung durch die Stadt zu erleben.“ (S. 377)
Inhalt
Clarissa Dalloway ist einundfünfzig. Sie ist verheiratet mit dem Parlamentsabgeordneten Richard Dalloway. Sie haben eine Tochter Elizabeth. Clarissa Dalloway lebt mit ihrer Familie in London im vornehmen Stadtteil Westminster und führt ein großes Haus mit Dienerschaft. An einem schönen Sommertag im Juni gibt sie eine ihrer berühmten, glänzenden Partys. Clarissa macht hierfür Besorgungen und trifft Vorbereitungen. Dabei werden Gedanken frei, die in ihre Vergangenheit zurückreichen. Nur die Stundenschläge des Big Ben holen sie in die Gegenwart zurück. In ihrer inneren Auseinandersetzung mit ihrem bisherigen Leben werden nach und nach Bruchstellen zwischen ihrer äußeren und inneren Existenz freigelegt.
Sprache und Stil
Die Handlung umspannt zwölf Stunden aus dem Leben von Clarissa Dalloway. Im Zentrum des Romans stehen Mrs. CLarissa Dalloway und Septimius Smith. Clarissa erinnert sich während ihrer Partyvorbereitungen an Ereignisse aus ihrer Jugendzeit. Septimus Warren Smith hingegen ist gefangen in seinen Erinnerungen an schreckliche Erlebnisse auf dem Schlachtfeld. Die Erinnerungen werden mit weiteren Personen geteilt, die in ihrem jetzigen Leben und in ihrer Vergangenheit eine Rolle eingenommen haben. Beide Wege der Protagonisten kreuzen sich zufällig im Roman, bis am Ende durch ein unglückliches Ereignis beide Erzählstränge miteinander verbunden werden.
Ein wichtiges Merkmal der Vergänglichkeit stellt Virgina Woolf mit Big Ben, der die Zeit anzeigt, dar. In Abständen teilt Big Ben mit seinem Glockenschlag die Gedanken der Individuen als Teil der Perspektivwechsel.
Der Wechsel der Perspektiven wird kontinuierlich vorgenommen, was die Handlung in den Hintergrund stellt und der Erzähltechnik einen besonderen Stellenwert einräumt. Woolf nutzt insbesondere eine damals neue Technik des Bewusstseinsstroms (Stream of Consciousness). Gedanken und Assoziationen der Figuren werden ungeordnet und unmittelbar wiedergegeben.
Exkurs Bewusstseinsstrom (Stream of Consciousness)
„Am Ende des 19. Jahrhunderts wuchs das Interesse an den Vorgängen in der Psyche des Menschen. Mitverantwortlich waren hierfür die tiefenpsychologischen Forschungen des Wiener Psychologen Sigmund Freud. Der Psychologe William James gebrauchte den Begriff "Stream of Consciousness" als Erster in seiner Abhandlung. Die Prinzipien der Psychologie (1890). Dabei bezog er sich auf den Roman Les lauriers sont coupés (1888) des Franzosen Édouard Dujardin, der die Erzähltechnik erstmals verwendete.“
Quelle: James Joyce, Ulysses, Historischer Hintergrund, Eine Revolution des Erzählers in https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/ulysses/3418. 23.05.2022.
Hauptprotagonisten
Clarissa Dalloway entspricht dem Rollenverständnis der Frau in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Als Gattin eines Politikers beschränken sich ihre Tätigkeiten innerhalb des Hauses und in ihrem Umfeld. Sie hat alles, was sie will. Clarissa achtet sehr auf ihr Aussehen. Sie gibt gesellschaftliche Partys, aber zeigt keine Eigeninitiative sozialer oder politischer Art. Früher war sie in Peter Walsh verliebt und als er am Tage der Partyvorbereitung unverhofft bei ihr erscheint, versucht sie ihre noch vorhandenen Gefühle für ihn zu verbergen.
"[…]sie hatte eine schmale Bohnenstangenfigur; ein lächerliches Gesicht, spitz wie das eines Vogels. Dass sie sich gut hielt, stand ausser Frage; und sie hatte Hände und Füße; und kleidete sich gut, wenn man bedachte, dass sie wenig Geld ausgab." (S. 18)
Doch mittlerweile fühlt sie sich als ein Nichts, „als Mrs. Dalloway; nicht einmal mehr Clarissa, sondern als Mrs. Richard Dalloway.“ (S. 19)
Septimus Warren Smith, 30 Jahre alt und mit verheiratet mit Lucrezia, 24 Jahre alt, stellt im Roman den Kontrast zu Clarissa dar.
Er war 25 Jahre alt, als er sich freiwillig aus einer patriotischen Stimmung heraus zum Kriegsdienst meldet. Septimius ist ein feinfühliger, der Literatur zugewandter, interessierter junger Mann mit literarischen Neigungen. Besonders intensiv beschäftigt er sich mit Shakespeare. Seine Persönlichkeit hat nach dem Erleben des Kriegsgeschehens eine ernsthafte psychische Erkrankung hervorgerufen. Er beendet sein Leben, um einen Krankenhausaufenthalt zu vermeiden.
„Der Krieg hatte ihn erzogen. Es war ein herrliches Gefühl. Er hatte das ganze Programm absolviert, Freundschaft, Weltkrieg, Tod, hatte sich ausgezeichnet, war noch nicht einmal dreißig und würde überleben. Damit hatte er recht. Die letzten Granaten erwischten ihn nicht mehr.“
(S. 154)
Peter Walsh 53 Jahre alt ist Clarissa Jugendliebe. Vor mehr als 20 Jahren wurde er von Clarissa zurückgewiesen, was er nie überwand. Peter ging nach Indien und ist nun überraschend zurückgekommen, um seine Jugendliebe zu besuchen. Das Treffen wird von Erinnerungen und Gefühlsausbrüchen begleitet.
„War es möglich, dass er in sie verliebt war, wenn er sich an das Elend, die Qualen, die unglaubliche Leidenschaft jener Tage erinnerte? […] Aber diese verblüffenden Gefühlsregungen - als er an diesem Vormittag in Tränen ausgebrochen war, was hatte all das zu bedeuten? Was mochte Clarissa von ihm gedacht haben?, wahrscheinlich hatte sie ihn für töricht gehalten, nicht zum ersten Mal. Eifersucht hatte es ausgelöst - Eifersucht, die jede andere Leidenschaft der Menschen überlebt.“ (S. 142 f.)
Sally Seton erscheint zunächst nur als Bild in Clarissas Erinnerungen. Sie erinnert sich an den Kuss, der von Sally ausging. Doch gesellschaftliche Normen und Erwartungen waren stärker. Sally erscheint am Schluss des Romans als Gast auf der Party.
„Zum Beispiel Sally Stein; ihre Beziehung zu Sally Stein in früheren Zeiten. War das nicht letzten Endes Liebe gewesen?“ (S. 58)
Erzählstil
Der Roman Mrs. Dalloway hat keine besondere äußere Handlung. Er spielt an einem Tag im Juni 1923. Das Wesentliche hat Virginia Wolf in den Köpfen ihrer Figuren verankert. Nebeneinander werden die Gedankenströme platziert, die den Leser und die Leserin in die tiefste Stelle der einzelnen Personen hinführt. Die Fassade wird durchbrochen, egal welche Klasse, Beruf, Geschlecht, Selbstbild oder Aussehen die Person ausmacht. Sie wechselt die Perspektive ständig.
Es gibt einen allwissenden Erzähler, Monologe, indirekte Rede, direkte Rede. Geschickte Stilmittel, wie Metaphern und bildliche Sprache, lassen Gegenstände und Geräusche Erinnerungen an die Vergangenheit in den Charakteren hervorrufen.
Gedanken und Assoziationen der Figuren werden ungeordnet und unmittelbar wiedergegeben. Sie vermitteln dem Leser einen Einblick in die Denkprozesse, nostalgische Betrachtungen und Sinneseindrücke, analysierende Gedanken, Selbstreflexion verbunden mit sehr bildlichen und emotionalen Beschreibungen.
Der Roman beginnt mit Erinnerungen aus Clarissas Vergangenheit. Der schöne Morgen und das Quietschen der Türangeln erinnern sie an ihre Jugendzeit in Bourton.
„Was für ein Spaß! Was für ein Aufbruch! Denn so war es ihr vorgekommen, wenn sie mit leisen Knarren der Angeln, wie sie es jetzt hören konnte, die Fenstertüren aufgerissen hatte und ins Freie nach Burton aufgebrochen war. Wie frisch, und friedlich, stiller als hier natürlich, war die frühmorgendliche Luft: wie das Plätschern einer Welle, der Kuss einer Welle, kühl und erfrischend und zugleich dennoch (für ein achtzehnjähriges Mädchen, das sie damals war) feierlich. […].“ (S. 5)
Clarissa nimmt die Stille und Geborgenheit der Natur wahr, im Gegensatz zur ständigen Unruhe und Geschäftigkeit des modernen Londons.
Zwei Handlungsstränge
Zwei Handlungsstränge bestimmen den Roman: Clarissas Vorbereitung der Party und das Schicksal des verzweifelten Septimus. Beide Handlungsstränge symbolisieren die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Clarissa Dalloway zählt zur Oberschicht. Sie führt einen elitären Lebensstil, der durch den Besuch des Premierministers auf ihrer Party besonders herausgehoben wird. Septimus Warren Smith steht auf der anderen Seite und verkörpert die kleinbürgerliche Welt eines lohnabhängigen Menschen. Septimus und Clarissas Wege berühren sich mehrmals.
Ein lärmendes Auto oder ein am Himmel kreisendes Flugzeug wird von beiden wahrgenommen.
„Alles war zum Stillstand gekommen. Das Dröhnen der Motoren klang wie ein Puls, der unregelmäßig im ganzen Körper pochte. Die Sonne wurde außergewöhnlich drückend, denn das Automobil stand vor Mulberry`s Schaufenster […]. (S. 26)
„Das Geräusch eines Flugzeugs dröhnte unheimlich in den Ohren der Menge.“ (S. 35 f.)
Zudem sorgen diese äußeren Begebenheiten und auch der Uhrschlag des Big Ben für fließende Übergänge zwischen den Erzählsträngen und dienen als Dreh- und Angelpunkte der Perspektivenwechsel.
Hauptmotive
Neben diesen beiden Handlungssträngen behandelt der Roman mehrere Hauptmotive. Die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des Lebens wird immer wieder durch die regelmäßigen Stundenschläge des Big Ben symbolisiert.
„[…] Big Ben […] Da! Es dröhnte. Zuerst die Ankündigung, melodisch; dann die Uhrzeit, unwiderruflich.“ (S. 7)
„Es war genau zwölf Uhr; zwölf Uhr laut Big Ben, dessen Schläge über den nördlichen Teil Londons wehten, gemischt mit den Klängen anderer Uhrwerke, auf flüchtige, luftige Weise mit den Wolken und Rauchwölkchen vereint, bis sie hoch oben zwischen den Möwen erstarben […].“
(S. 168)
Die Auseinandersetzung mit Gefühl und Wahnsinn wird sehr stark in der Figur Septimus Smith, der unter einem Trauma leidende Kriegsveteran, zum Ausdruck gebracht. Er und seine Frau suchen Hilfe, das Kriegstrauma zu verarbeiten, aber sie erkennen: Es gibt keine Hilfe. Die Reaktion des Psychiaters, eine Ausgrenzung aus der normalen Lebensumwelt umzusetzen, die Einweisung in ein Heim, führt dazu, den Schritt zur Selbsttötung weiterzugehen.
„»Wir sind übereingekommen, dass Sie in ein Heim gehen« sagte Sir William.“ (S. 174)
Bei Clarissa und Peter Walsh spielen Gefühle eine große Rolle. Peter, ihre Jugendliebe, taucht unverhofft bei ihr auf. Gemeinsam tauschen sie Erinnerungen der gemeinsamen Vergangenheit aus.
Im Laufe ihrer Erinnerungen stellt sich Clarissa die Frage, warum sie sich gegen eine Heirat mit Peter entschieden hat.
„Jetzt, dachte Clarissa, ist er wahrhaftig bezaubernd! Jetzt weiß ich wieder, wie unmöglich es mir war, mich zu entscheiden - und warum habe ich mich entschieden - ihn nicht zu heiraten, fragte sie sich, in jenem abscheulichen Sommer?“ (S. 74)
Der Besuch hatte sie aus der Fassung gebracht, letztendlich erkennt Peter, dass eine Ehe mit ihr zu nichts geführt hätte.
„Das andere hatte sich letzten Endes so unmissverständlich ergeben.“ (S. 276)
Weitere Themen wie gesellschaftliche Unterschiede, sexuelle Unterdrückung und den langsamen Untergang der alten, britischen und politischen Ordnung nimmt Virgina Woolf in ihren Roman auf.
Clarissa erinnert sich an ihren erotischen Kontakt mit Sally Seton. Sie befürchtet, dass diese Gegebenheit sich bei ihrer Tochter Elizabeth mit der Privatlehrerin Doris Kilman wiederholt. Elizabeth und Miss Kilman sind unzertrennlich. Clarissa befürchtet, dass Miss Kilman ihr die Tochter entfremdet.
Ihr Mann Richard betrachtete es als eine Phase, die „alle Mädchen durchmachen“. Die bevorstehenden Feierlichkeiten stehen auch im Zeichen politischer Veränderungen. Die Oberschicht wird zunehmend von dem aufkommenden Bürgertum und der organisierten Arbeiterschicht eingeengt.
Abgerundet wird der Roman durch Anmerkungen und ein Nachwort von Vea Kaiser.
Fazit
„Mrs. Dalloway wurde nach seinem Erscheinen zu einem für die damalige Zeit großen Erfolg und begründete Woolfs Ruhm. 1925 wurde sie sogar für die Vogue fotografiert.“ (S. 388)
Der Roman ist das beste literarische Werk der Autorin. Die Geschichte ist der Zeit der literarischen Moderne zuzuordnen. Im Roman gibt es keine bestimmte Handlung. Die Handlung findet hauptsächlich im Bewusstsein der Charaktere statt. Victoria Woolf hat in Mrs. Dalloway den Stil des Gedankenstroms perfektioniert. Fließende Gedanken, Erinnerungen, Hoffnungen und Träume zeigen mentale Zustände der unterschiedlichsten Personen auf. Die Hauptfigur Mrs. Dalloway denkt über ihr Leben nach, seine Bedeutung und die Essenz daraus. Sie fragt sich, ob sie glücklicher, klüger oder erfüllter sein könnte, als sie es ist. Doch am Ende erkennt sie, dass sie das Beste gewählt hat. Im Gegensatz zu Septimius, dessen Gefühle, Leiden und Schmerzen von dunklen und negativen Gedanken beherrscht werden.
Die Geschichte wird mit weiteren Personen wie Richard Dalloway, Peter Walls, Sir William Bradshow, Elizabeth verwoben, deren Wege sich kreuzen oder in einem direkten Zusammenhang stehen.
Einen weiteren Aspekt im Roman wird mit dem Begriff Zeit aufgegriffen. Die Zeit wird durch Big Ben symbolisiert. Geordnet schlägt er die Stunde und zeigte das Vergehen der Zeit kontinuierlich an. Vergangenheit wechselt sich ab mit Erfahrung und Erinnerung. Das Bewusstsein der Vergänglichkeit wird immer greifbarerer.
Der Roman ist insgesamt kurz, aber durch seine durchdachte Sprache und seinen hervorragenden Aufbau ein grandioser Roman.
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Autorin Petra Gleibs, Mai 2022, Buchvorstellung Virgina Wolf, Mrs. Dalloway, https://www.lesenueberall.com/mrs.-dalloway/
Virgina Woolf
Mrs. Dalloway
aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz
Nachwort von Eva Kaiser
Manesse Verlag, 2022
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