· 

Töchter Haitis

Autorin

Marie Vieux-Chauvet wurde 1916 in Port-au-Prince (Haiti) geboren. Sie entstammt einer großbürgerlichen Mulattenfamilie. Ihre Mutter kam von den Antillen und ihr Vater war ein haitianischer Politiker. Sie war mit Pierre Chauvet verheiratet. Sie schrieb Theaterstücke und insgesamt fünf Romane. Ihr Roman „Töchter Haitis“ erschien 1954. Nachdem François Duvalier Präsident wurde und sich als Papa Doc zum Diktator aufgeschwungen war, bedeutete das für sie massive Einschränkungen. Sie ging ins US-amerikanische Exil und lebte dort in New York. 

Marie Vieux-Chauvet starb 1973.

 

Inhalt

Der Roman „Töchter Haitis“ ist in der Zeit der Umbruchphase in Port-au-Prince 1940 angesiedelt.

Im Zentrum des Romans steht die junge Waise Lotus Degrave. Sie lebt in Port-au-Prince in der geerbten Villa ihre Mutter. Sie ist Mulattin und gehört der mulattischen Gesellschaftsschicht an. Ihre zweifelhafte Herkunft, ihre Mutter war eine wohlhabende mulattische Prostituierte und ihr Vater ein weißer französischer Marineoffizier, versperrt ihr den Zugang zur Gesellschaft. Sie führt ein sorgenfreies Leben, verfügt über ausreichend finanzielle Mittel, um ihren Unterhalt ohne Arbeit zu bestreiten. Sie verachtet Männer. 

 

„Meine ärgsten Feinde waren die Männer, denn  sie hatten mir  meine Mutter gestohlen.“ 

(S. 14)

 

Erst als sie Georges Caprou kennenlernt, ändert sich ihre Einstellung. Zu ihm fühlt sie sich hingezogen, der erste Mann, vor dem sie Achtung hat. 

Georges Caprou, ein attraktiver junger Revolutionär, verändert ihr Leben. Er zeigt die Missstände auf, das Elend vor ihrer Tür und weckt ihr politisches Interesse. Sie unterstützt ihn bei seinem revolutionären Kampf. Der Sturz der Regierung ist erfolgreich, aber schon bald wird die Rivalität zwischen Mulatten und Schwarzen erneut angefacht. Lotus und Georges Caprou müssen fliehen. 

 

Sprache und Stil

„Töchter Haitis“ zeigt die Ungleichbehandlung aufgrund von Klassenzugehörigkeit, Hautfarbe und Geschlecht und die Korruption und Brutalität des haitianischen Staates.

Es gärt in der Bevölkerung der Unterdrückten. In dieser Zeit, als die Umbruchphase sich abzeichnet, setzt der Roman ein. 

Lotus erlebt Haiti als Polizeistaat, der nicht davor zurückschreckt, einen Dieb, der eine Kochbanane gestohlen hat, weil seine Familie hungern muss, brutal zu behandeln. Die rohe Gewalt erfährt ebenso seine Frau, die versucht, ihm zu helfen. Lotus merkt, dass ihr dieses Schicksal der Gewalt noch bevorsteht. 

 

„Heute schlug man Diebe, und eines Tages würden auch diejenigen geschlagen werden, die für Gerechtigkeit und das Wohl des Volkes kämpften“. (S. 21)

 

Die ersten Zeichen des Auflehnens gegen Gewalt, Ausbeutung und eine Korruptionsgesellschaft werden sichtbar. Lotus stellt sich mutig dagegen. 

 

„Weiße Herren, ihr beutet den Schwarzen aus […].“ (S. 66)

 

Sie zeigt ihre mutige, souveräne Haltung gegenüber einer zermalmenden Gewalt.

 

Lotus steht nicht als Protagonistin, deren Leben im Detail gezeigt wird, sondern stellvertretend für die Gesellschaft und die Frauen im damaligen Haiti. Lotus befindet sich in der Mitte, weder schwarz noch weiß, weder arm noch richtig reich. Sie bewegt sich am Rande der Gesellschaft, allein als Frau in einem großen Haus, getrennt von den ärmlichen Hütten. Die Nachbarn beäugen sie misstrauisch. Die politische Ebene vertritt der Revolutionär Georges, der die patriarchalische Seite zeigt.

 

„Die Lage war ernst. Nach und nach erfasste eine neue Geisteshaltung eine kleine Gruppe schwarzer Intellektueller, die für sich und die übrigen Schwarzen jene Achtung, jenen Respekt einforderten, die ihnen ebenso zustanden wie allen anderen Haitianern.“ (S. 163)

 

Gemeinsam kämpfen sie. George schleust heimlich seine Freunde in ihr Haus, das nun ein gefährlicher Ort für sie wird.

 

„Schwarze Anführer wollen dem Volk beweisen, dass allein die Mulatten für sein Elend  verantwortlich sind. "

(S. 182) 

 

War ihr zu Hause jemals ungefährlich? Sie ist von jeher verwundbar. Wegen ihrer Herkunft scheint die patriarchalische Welt sie als Freiwild betrachten zu können.

Lotus begibt sich mehr und mehr aus ihrer sicheren Umgebung hinaus und kann nun „Sehen“. Sie sieht das Elend um sich herum, sie beginnt zu begreifen, dass ihre Tat, den Frauen bei ihrer Arbeit aufzuwecken, ohne selbst aktiv zu werden, nutzlos war. Jetzt beginnt sie zu helfen und merkt, wie dringend Hilfe nötig ist. Und auch George ist inzwischen bereit, Lotus anzuerkennen.   

 

Sie erkennt ihre eigene Hilflosigkeit. Das Buch „La Conscience“ von Victor Hugo (S. 120) steht stellvertretend für ihr „Gewissen“. Sie muss etwas verändern. Die Religion und Vodou helfen ihr dabei. Nebenbei erfahren wir etwas über den Kult von Vodou und Religion, die beide in Haiti nebeneinander existieren. 

Der Arzt sagt, sie werde töten, auf die Frage, wen: „Ihre Seele, vielleicht“.

 

Lotus Leben bekommt plötzlich einen Sinn. Ihr Denken zieht in eine andere Sphäre, so als ob sie nun lebendig geworden wäre, ihr Sein nimmt eine andere Form an, „sie wurde fortgetragen hin zu den Wolken, die den tiefblauen Himmel säumten.“ (Vgl. S. 121)

 

„Wie durch ein Wunder war alle Traurigkeit, alles Grauen verschwunden, ich spürte wie Blitze mich durchzuckten, wie eine Vielzahl von Dingen mich belebte […]“. (S. 121)

 

Marie Vieux -Chauvet erzählt die Geschichte in der Ich-Form aus Sicht von Lotus. Sie gibt mit dieser Erzählform den Frauen Haitis eine Stimme. 

 

Die Sprache ist schnörkellos und eindringlich. Gelegentliche Tempussprünge im Text sind gewollt. In der Übersetzung werden sie als „Besonderheit eines haitianischen Textes“ (S. 282) beibehalten.  

Kreolische Begriffe und idiomatische Wendungen werden übernommen und sofern sie nicht übersetzt werden, in Anmerkungen bzw. Glossar erklärt. Diese Umsetzung verleiht dem Roman Authentizität.  

 

Anmerkungen, Glossar, Nachwort und Editorische Notiz runden den Roman ab. 

 

Fazit

„Töchter Haitis“ muss in den geschichtlichen Kontext eingeordnet werden. Ich empfehle für ein besseres Verständnis des Romans  zunächst das Nachwort auf (S. 266 f.)  und die Editorische Notiz auf (S. 281 f.) zu lesen. 

 

Bis heute hat der Roman an Aktualität nichts verloren. Es ist eine fiktionale Erzählung und gleichzeitig eine historische Geschichte. "Töchter Haitis" präsentiert die Absurdität der 1940er-Jahre eines rassistisch geprägten Landes. 

 

Marie Vieux -Chauvet ist Zeugin der Zeit, wie Machtpolitiker durch rassistische Hetze, Korruption und Ausweglosigkeit politischer Organisationen die haitianische Bevölkerung skrupellos manipulieren und sich nicht um die Nöte, insbesondere um die rechtlosesten Teile der Bevölkerung kümmern. 

 

„Mit Lotus Degrave bietet Marie Vieux-Chauvet uns ein Brennglas, durch das sie eine Gesellschaft sichtbar macht, die sich bis heute wieder auf polarisierenden ethnischen Absolutheitsansprüchen errichtet. Das war radikal in ihrer Zeit.“ (S. 280)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marie Vieux-Chauvet

Töchter Haitis

Aus dem Französischen übersetzt

von Nathalie Lemmens

Mit eine Nachwort von Karma L. Glover

 

Manesse Verlag 

Erschienen am 28. September 2022 

 

 

 

 

 

Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, Oktober 2022, Buchvorstellung Marie Vieux-Chauvet, Töchter Haitis, https://www.lesenueberall.com/töchter-haitis/ 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0