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Vor der Nacht

„Viele Geschichten beginnen am Meer oder sie enden dort. Die meisten aber handeln davon, ein Land zu finden.“

 

Das Zitat beschreibt die symbolische Verbindung zwischen dem Meer und der menschlichen Suche nach etwas Größerem. Das Meer steht dabei für den Anfang oder das Ende einer Reise, oft verbunden mit Freiheit oder Ungewissheit. Die Suche nach einem Land symbolisiert das Streben nach einem Ziel, sei es ein physischer Ort oder eine innere Erfüllung. Insgesamt drückt es aus, dass viele Lebensgeschichten von der Suche nach Zugehörigkeit oder neuen Möglichkeiten geprägt sind.

 

Der Roman erzählt von dem schwierigen Leben von Jonas. Er bekommt den Namen Jimmy. Und er zeigt, wie er sich in dem Heim fühlt. Das zentrale Thema der inneren Suche nach Heimat und Zugehörigkeit verdeutlicht dies. Jonas hat durch den Verlust seiner Eltern und die Isolation im Heim seine traditionelle Vorstellung von Heimat verloren und findet in den Beziehungen zu anderen Kindern sowie in seinen Erinnerungen Zuflucht und Trost.

 

„Ich schlurfte mit meinem Gepäck über der  Schulter bereitwillig hinter ihr her. Die Faust in meiner Hosentasche umklammerte den Stein, der über die Jahre galt geworden und ohne Kanten war. Das Runde schmeichelte meiner Hand und gab mir Trost.“  (S. 17)

 

Die Verbindung zwischen der äußeren Reise ins Ungewisse und der inneren Suche nach Trost und Stabilität ist das Einzige, das der Unsicherheit der neuen Umgebung entgegengestellt wird.

 

Die strenge Heimleiterin und die kalte, isolierte Umgebung verstärken das Gefühl von Entwurzelung und Entfremdung. Trotz der schwierigen Umstände entsteht zwischen Jonas und den anderen Kindern eine Art Ersatzfamilie, was verdeutlicht, dass emotionale Geborgenheit häufig in zwischenmenschlichen Beziehungen zu finden ist, selbst in herausfordernden Situationen.

 

Die Geschichte betont, dass äußere Umstände, wie der Ort oder die räumliche Umgebung, weniger bedeutsam sind als die Bindungen, die Menschen miteinander knüpfen. Es geht um das Finden von Zugehörigkeit und Halt im Herzen, unabhängig von äußeren Umständen.

Der Halbwaise Frei spielt eine zentrale Rolle im Leben von Jimmy und der Gruppe, indem er zunächst als Beschützer und Bindeglied fungiert. 

 

„Mein Zimmernachbar hieß Frei. Nicht Freimuth oder Freimund. „Ein Name wie ein Käfig.“ Das sagte er einmal.“ (S. 22)

 

Durch Rituale wie das abendliche Apfelteilen schaffen sie einen starken Zusammenhalt und ein Gefühl von Geborgenheit. Doch die äußere Welt, mit all ihren Einflüssen und Herausforderungen, dringt zunehmend in dieses vermeintliche Schutzrefugium ein. Die unerwarteten und unerklärlichen Ereignisse – das Verschwinden zweier Jugendlicher, Esteban und der Stallgehilfe – verdeutlichen, wie zerbrechlich dieser Zusammenhalt ist. Es deutet darauf hin, dass äußere Kräfte die innere Stabilität zerstören können und selbst starke Bindungen und Rituale nicht immer vor dem Zerbrechen schützen.

 

Der Autor Salih Jamal zeigt eindrucksvoll, wie Jimmy, auch als Erwachsener, noch stark von den Ereignissen seiner Jugend geprägt ist. Diese Erfahrungen lassen ihn nicht los, was ihn dazu bewegt, sich auf eine Suche nach Antworten, Klarheit und vielleicht auch innerem Frieden zu begeben. Es wird deutlich, dass seine Reise nicht nur eine physische, sondern vor allem eine innere Auseinandersetzung ist. Die Reflektion über Zusammenhalt, Familie, Freundschaft, Schuld und Vergebung zeigt, dass Jimmy die Beziehungen und Konflikte seiner Vergangenheit aufarbeiten will. Es ist ein Versuch, die Brüche in seinem Leben zu verstehen und mit den emotionalen Narben umzugehen, die ihn bis in die Gegenwart verfolgen.

 

Die Sprache ist poetisch und tiefgründig. Salih Jamal überzeugt durch sprachlich gelungene Sätze, die sowohl philosophische als auch emotionale Tiefe besitzen und den Leser zum Nachdenken anregen.

 

„Man sagt, Tote reisen schnell. Doch das stimmt nicht. Es gibt Millionen vergangener und vergessener Augenblicke, die in einem unerwarteten Moment unmittelbar und unmerklich zu dir zurückkehren, und dann, ganz kurz, siehst du die, die für immer gegangen sind. In Gesichtern  anderer, in Dingen. Manchmal sogar in Wolken, die ziehen.“ (S. 160)

 

Der Satz drückt aus, dass Erinnerungen an Verstorbene nicht sofort verblassen, sondern im Gegenteil unerwartet und subtil in alltäglichen Momenten wiederkehren. Diese Erinnerungen sind in uns eingebettet und tauchen manchmal in den Gesichtern anderer Menschen oder in unscheinbaren Dingen auf, wie in vorbeiziehenden Wolken. Der Satz spielt mit der Idee, dass der Tod zwar das Ende des physischen Lebens bedeutet, aber die Präsenz der Verstorbenen in Form von Erinnerungen immer wieder spürbar wird. Die Metapher der Wolken verstärkt den flüchtigen, aber tiefen Charakter dieser Rückkehr.

 

Wer „Das perfekte Grau“ und „Blinder Spiegel“ gelesen hat, wird auch von diesem Roman nicht enttäuscht, weil Salih Jamal erneut seine charakteristische Mischung aus poetischer Sprache, emotionaler Tiefe und philosophischen Fragen einbringt. Seine Werke zeichnen sich durch komplexe Figuren, intensive Reflexionen über das Leben und die menschliche Psyche sowie berührende Geschichten aus, die oft Themen wie Verlust, Freundschaft und die Suche nach Identität behandeln. Auch in diesem Roman fesselt er die Leser mit ähnlichen Elementen und einem unverwechselbaren Erzählstil.

 

„Als der Wolf und ich uns alles gesagt hatten und dann doch nichts wussten, saßen wir still am Wasser und blickten in die Weite hinaus. Die Wellen schlugen gegen den Sand, und von Dunkelheit umgeben fasste uns die Nacht.“ (S. 342)

 

 

 

 

Salih Jamal

Vor der Nacht

 

Verlag:leykam

Erscheinungsdatum 12.08.2024 

 

 

 

 

 

Arbeit zitieren

Autorin Petra Gleibs, September 2024, Buchvorstellung Salih Jamal, Vor der Nacht

https://www.lesenueberall.com/2024/09/12/vor-der-nacht/

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Salih Jamal (Samstag, 14 September 2024 15:36)

    Liebe Petra,
    liebsten Dank für deine Buchkritik. Ich freue mich sehr über das aufmerksame Lesen. Hoffentlich sehe wir uns mal in echt. Ich meine wir haben keine 10 km von Düsseldorf nach Neuss
    Liebe Grüße
    Salih